Die gestundete Zeit

Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald mußt du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.

Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.

Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!

Es kommen härtere Tage.

—Ingeborg Bachmann, 1953

Kommentare deaktiviert für Die gestundete Zeit

Rede über die drei Weltkriege

Liebe Endzeitgenossen! Wir sind hier zusammen­gekommen, um der Toten der drei Weltkriege zu gedenken. Daß unsere Kraft nicht ausreicht, um uns diese Millionen wirklich vorzustellen und um uns den euren Klagelärm, den die Summe der Abermillionen Todesschreie ergeben würde, wirklich zu hören, das wissen wir ja. Was können wir da tun, um ihrer dennoch zu gedenken?

Mir scheint, uns bleibt nichts anderes übrig, als daß jeder von uns versuche, eines Toten zu gedenken, eines einzigen. Aber wenn möglich eines, der nicht zu seinen persönlichen Toten gehört.

Der eine gedenke eines zerstrahlten Kindes in Hiroshima.

Der andere einer verbrannten Frau in Dresden.

Der dritte eines vergasten Juden in Auschwitz.

Der vierte eines im Ozean ertrunkenen Amerikaners.

Der fünfte eines im Gestapokeller Zusammengeschlagenen.

Der sechste eines gemarterten Algeriers.

Der siebente eines in Stalingrad zu Eis erstarrten Russen.

Der achte eines Kindes, das morgen zerstrahlt daliegen wird.

Der neunte eines Matrosen, der morgen ertrinken wird.

Der zehnte eines Kindes, das morgen nicht mehr das Licht der Welt erblicken wird.

Jeder versuche, eines zu gedenken, eines Gewesenen oder eines Künftigen. Vielleicht, daß die Summe unseres Gedenkens und unserer Trauer dem nahe­kommen wird, was wir eigentlich betrauern müßten. Und vielleicht, daß wir aus diesem Gedenken die Kraft zu dem Entschluß gewinnen können, durchzusetzen, daß, die wir heute im voraus beklagen, doch weiterleben, daß also das Furchtbare nicht geschehe.

Zu diesem Gedenken und zu diesem aus Trauer geborenen Entschluß bitte ich Sie, sich zu erheben.

(Abgeschlössen am 18. Oktober 1964)

—Günther Anders, »Hiroshima ist überall«, (München: C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, 1982), 393-394.

Kommentare deaktiviert für Rede über die drei Weltkriege

Todesnacht von Stammheim


Kommentare deaktiviert für Todesnacht von Stammheim

The Garden


Josep Borrell, Inauguration of the European Diplomatic Academy in Bruges, Belgium 13.10.2022

Kommentare deaktiviert für The Garden

October 16, 1968

Kommentare deaktiviert für October 16, 1968

Hoffnung

Schuchow hatte in Gefängnissen und Lagern Tausende dieser Rationen bekommen, und obgleich er nie eine Möglichkeit gehabt hatte, eine davon auf einer Waage zu wiegen, und immer zu schüchtern war, auf seine Rechte zu pochen, wußte er, wie jeder andere Sträfling, seit langem, daß die, die das Brot aufschnitten und ausgaben, es nicht lange machen würden, wenn sie dir ehrliche Rationen gaben. Jede Ration wog zu wenig. Die einzige Frage war: um wieviel? So prüfte man jeden Tag nach, um Sich selbst zu beruhigen, in der Hoffnung, daß man nicht allzu schlecht weggekommen war. (»Vielleicht hat meine Ration heute fast das volle Gewicht.«)

—Alexander Solschenizyn, »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch«, (München: Droemersche Verlagsanstalt, 1963), 53.

Kommentare deaktiviert für Hoffnung


John Shipton, Stella Assange, Gabriel Shipton at Berlin screening of Ithaka

Kommentare deaktiviert für

Literaturkurs 11.10.2022

Todesfuge > Paul Celan, 1945

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland
dein goldenes Haar Margarete

er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne
er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland
dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith

wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng

Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt
er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau
stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr anderen spielt weiter zum Tanz auf

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen

Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus  Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus
Deutschland

dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith

Kommentare deaktiviert für Literaturkurs 11.10.2022

Chris Hedges:

Senator Frank Church — after examining the heavily redacted CIA documents released to his committee — defined the CIA’s “covert activity” as “a semantic disguise for murder, coercion, blackmail, bribery, the spreading of lies and consorting with known torturers and international terrorists.”

Kommentare deaktiviert für


„Just what you want to be, you’ll be in the end.“

This used to sound sage, heavy, when I was 16 and listening to the Moody Blues stoned and/or tripping. Forty-five years later, just having visited with a friend I hadn’t seen for 35+ years, it has acquired a new valence.

Kommentare deaktiviert für